Mit diesen Worten brachte Jürgen Schöning auf dem Europa-Frühschoppen der Europa-Union Tarp am Sonntag, dem 9. Juni, seine Besorgnis über den gegenwärtigen Zustand der europäischen Integration auf den Punkt. Einen Ausweg aus der aktuellen Krise sah der haupt- und ehrenamtlich jahrzehntelang in Europaangelegenheiten engagierte parteilose Referent (zu den biografischen Daten siehe Fn a.E.) in einer „neuen Kultur der Bürgernähe“. Die aktuelle EU-Politik sei zunehmend Finanzmarkt-orientiert und es scheine, als habe sie eher ein anonymes „Marktvolk“ im Blick als das Staatsvolk in Gestalt der Bürgerinnen und Bürger, kritisierte Schöning. Dies sei umso enttäuschender, als der Vertrag von Lissabon die Bürger in den Mittelpunkt des europäischen Projektes rücken sollte.
Noch problematischer sei die grobe Missachtung des europäischen Rechts durch die EU und ihre Mitgliedsstaaten. Die meisten von ihnen hätten die Obergrenze der Gesamtverschuldung von 60 Prozent des Bruttoinlandsproduktes deutlich überschritten. Bei Beachtung des geltenden EU-Rechts, das die Überwälzung von Schulden einzelner Staaten auf die Gemeinschaft ausschließt, wäre die Schuldenkrise in diesem Ausmaß nicht eingetreten. Die Ursache der Finanzkrise läge daher nicht nur bei den Banken, sondern auch in einem eindeutig rechtswidrigen Verhalten der EU und den Mitgliedern der Eurozone. Die Folgen dieser Politik bedrohten viele Menschen in ihrer Existenz und vernichteten Wohlstand und Erspartes. Europa sei als Friedens- und als Rechtsgemeinschaft gegründet worden. Eine Labilität des Rechts wiege auf Dauer noch schwerer als eine Instabilität der Finanzen.
Es sei nicht verwunderlich, wenn daraus Staatsverdrossenheit und Europa-Ablehnung resultierten. Denn nicht die Staaten, der Kapitalmarkt oder die Politiker zahlten die Zeche, sondern die Menschen. Und das gleich doppelt: Der Fiskalpakt werde aus Steuergeldern finanziert und die zur Rettung der Schuldenstaaten extrem niedrig gehaltenen Zinssätze der Europäischen Zentralbank führten zu Ertragszinsen unterhalb der Inflationsrate. Das Kapital und die Alterssicherung der Bürger würden auf diese Weise in eine bisher nicht gekannten Weise vernichtet.
Vor diesem Hintergrund sei das nach wie vor vorhandene Solitaritätsbekenntnis der Mehrheit der Bürger mit ihren europäischen Nachbarn und dem europäischen Einigungswerk insgesamt bemerkenswert. Dieser Bogen dürfe jedoch nicht noch weiter überspannt werden, warnte Schöning. Die Demonstrationen in einigen von der Krise besonders heimgesuchten Ländern Südeuropas hätten bereits einen Hinweis auf eine mögliche weitere Eskalation gegeben, an deren Ende nationalistische und antieuropäische Kräfte die Oberhand gewinnen könnten. Gegen solche Entwicklungen sei kein Land gefeit: „Wenn die globale Finanzkrise dazu führt dass die EU auch in unseren Städten und Dörfern verbreitet nur noch so wahrgenommen wird, als sei sie nicht nur an der der wirtschaftlichen und sozialen Notlage vieler Menschen mit beteiligt, sondern habe auch kein Konzept zur Krisenbewältigung, werden auch die Gutwilligsten in ihrer europäischen Solidarität und Loyalität überfordert,“ zeigte sich der Referent besorgt.
Die Menschen in Europa erwarteten trotz des Meinungsstreits der Ökonomen über geeignete Rezepte zur Überwindung der Schuldenkrise mit Recht von der Politik Entschlusskraft und eine eindeutige Wegweisung. Vor diesem Hintergrund erzwinge die Schuldenkrise eine neue Finalitätsdebatte – einen breiten öffentlichen Diskurs über den Zweck und das Ziel des europäischen Einigungsprozesses. Das europäische Projekt brauche die Akzeptanz und die Zustimmung der Europäer. Das stelle die Politik vor die Herausforderung, Europa für die Zukunft zu begründen. Was vor fast sieben Jahrzehnten angesichts der Verheerungen des Zweiten Weltkrieges wichtigstes Ziel war – die Versöhnung und Friedenssicherung – sei zwar d i e historische Leistung des europäischen Einigungswerkes. Sie bewege die Menschen und vor allem die Jugend aber nicht mehr in gleichem Maße.
Es sei das Verdienst der Europa-Union Deutschland, schon früh die Diskussion über das Zukunftsbild Europas angestoßen zu haben. Als bedeutender Verband der organisierten Zivilgesellschaft trage er über den Bundesverband und seine Landes- und Ortsverbände dazu bei, dass der Europagedanke die Menschen in den Städten und Dörfern erreiche. Der Ortsverband Tarp habe sich unter der langjährig bewährten Führung ihres Vorsitzenden Gerhard Beuck dabei in besonderer Weise hervorgetan.
„Ich bin auch gern nach Tarp gekommen, um die Verdienste Ihres Ortsverbandes und Ihres ehrenamtlichen Vorsitzenden Gerhard Beuck, dem ich seit vielen Jahren in Respekt und Freundschaft verbunden bin, auf dem langen und oft mühevollen Weg nach Europa zu würdigen. Die Aufforderung, die Menschen nach Europa mitzunehmen, wird hier in vorbildlicher Weise erfüllt“, betonte der Referent abschließend.
Jürgen Schöning prägte über 20 Jahre als Direktor des Schleswig-Holsteinischen Landtages die Europa-, Ostsee- und Minderheitenpolitik des schleswig-holsteinischen Landesparlaments entscheidend mit und war nach seinem Ausscheidenaus diesem Amt mit Erreichen der Pensionsgrenze noch für mehr als ein Jahr Europaminister und Chef der Staatskanzlei in Thüringen. Ehrenamtlich war der promovierte Jurist von 1999 bis 2010 Vorstandsvorsitzender der Europäischen Akademie Schleswig-Holstein in Sankelmark und von 1978 bis 1987 auch Landesvorsitzender der überparteilichen Europa-Union Deutschland. Er ist heute bei der in Flensburg ansässigen Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen (FUEV) ehrenamtlich als Berater tätig und leitet für diesen europaweit größten und bedeutendsten Minderheitenverbund das Projekt „Minderheiten helfen Minderheiten“ zur Integration und Verbesserung der Lebenssituation der Roma in Ungarn.